Untiefen und Tiefen

Von der Insel Idö sehen wir so gut wie überhaupt nichts. Zum Duschen reicht es geradeso, aber dann will unser GFK-Schwimmsteg aus Giebelstädter Produktion los. Da wir nicht noch verholen wollen, machen wir auch gleich los. Zur Verproviantierung haben wir uns Västervik ausgeguckt, es geht leider weitgehend gegenan. Kreuzend Segeln müssten wir aussen rum und das würde wirklich ewig dauern. Also motoren wir am Turm auf Spårö vorbei und auf die spaltähnliche Durchfahrt zwischen Spårö und Grönö zu. Eine merkwürdige Sache: Man hält auf eine Küstenformation zu, in der man zunächst überhaupt keine Unterbrechung sieht. Erst im richtigen Winkel geben die Felsen und Nadelbäume den Blick auf eine Durchfahrt frei.

Respekt, uns kommt eine ziemlich große Yacht unter Segeln entgegen, da braucht man schon ein wenig Nerven – selbst vor dem Wind. Weiß man doch schliesslich nie so recht, welche Spielchen der Wind in solchen Schluchten treibt. Allerdings wirken die schnell einsatzbereiten Pferdestärken einer Innenmaschine sicher als Beruhigungsmittel 😉 Landschaftlich ist die Durchfahrt wirklich ein komprimiertes Abbild dieses gesamten Landstrichs. Voller rundgeschliffener Granitbrocken, aus deren Spalten es wächst und gedeiht. Und das typische skandinavische Leben direkt am Wasser. Es gibt in den Schärengärten fast auf jedem Felsen, in jeder Mulde, an jeder Bucht ein Ferienhäuschen, das mit grandiosem Ausblick, wilder Natur und der Nähe zum Wasser den Sommer verzückt. Dazu die praktischen Helferlein einer bootsfahrenden Kultur: Ringe im Fels, Mooringtonnen, Stege, Baken, Steinhaufen und bemalte Felsen. Am Ende der Durchfahrt dann ein Akt von ‚Land-Art’: Jemand hat einen schönen alten Holzstuhl auf den letzten Felsfinger gestellt, der förmlich zum Verweilen, Betrachten und Sinnieren einlädt.

Je näher man jedoch der Stadt Vastervik kommt, desto mehr erfasst einen der Eindruck der zielgerichteten Bewegung. Man will in erster Linie ankommen. Uns geht das genauso: Einkaufen, Spielplatz, Wassertanken und wieder los – das ist der Plan. Für die Reize und das touristische Angebot der Stadt verschliessen wir uns – zu sehr zieht es uns wieder raus in die Schären. Wir machen in einer wenig reizvollen Betonmarina fest, die einem größeren Yachtservice angeschlossen ist. Ein Lichtblick: Wir treffen ein französisch-schwedisch-stämmiges Norwegerehepaar, die uns schon auf Bornholm gesehen hatten. Sie berichten kurz von ihrem Törn, der im Gegensatz zu unserem weit ausgeholt hat – Polen, Litauen, Lettland. Sie sind begeistert, dass es dort viele kleine Boote gibt und viel mehr wirklich gesegelt wird. Sehr sympathisch die Beiden. Und wollen auch durch den Götakanal…

Als wir in der Touristeninformation nach Supermarkt und Spielplatz fragen, bemerken wir erst beim Rausgehen, dass wir eigentlich ein Ticket hätten ziehen und warten müssen. Aber so sind die Schweden – so freundlich, zurückhaltend und höflich, dass man niemals auf sein Fehlverhalten hingewiesen würde. Der Spielplatz ist groß und gut, der Supermarkt auch, nur der Rückweg wird mit 18 Litern Wasser bzw. Helene und dem Einkauf doch ziemlich lang. Froh sind wir, als wir endlich unter Genau ablegen und der Stadt den Rücken kehren können. Sorry, Västervik, wir haben Dir nicht einmal eine Chance gegeben.

Mit der Aussicht auf ein paar Tage in den Schären und dann noch mit ordentlich Wind unter den Rockschößen gewinnt der Tag auf seine späten Stunden merklich. So lassen wir schnell die lange Insel Gränsö hinter uns und halten erst einmal in offenere Gewässer hinaus. Das Banana-Boot zischt und gurgelt mittlerweile kräftig hinter uns. „Na ja, viel schneller wären wir ohne auch nicht“, denke ich mir. Als es Zeit wird, ein wenig anzuluven und wieder in die Felsenwelt einzutauchen, kommt die ‚EigenArt‘ unter Genua mächtig ins Rutschen. Über uns kräftige Quell-Bewölkung, die mit dem Westwind aufs Land hinausgetrieben wurde und für eine ordentliche Brise sorgt.

„So richtig gut ist das mit dem Schlepp jetzt aber nicht mehr“, geht mir mehrmals durch den Kopf. Denn das Banana-Boot ist definitiv weit über seiner Rumpfgeschwindigkeit unterwegs, hebt sich auf die Bugwelle und stellt sich immer steiler an. Das Wellenmuster der ‚EigenArt’ ist dezent gegenüber dem Trichter, den das Anhängsel in die Ostsee pflügt. Ich stehe auf, um einen Blick hineinzuwerfen: Es schwappt schon ein wenig Wasser darin, das sich seinen Weg über das teils offene Heck gesucht hat. „Da müssen wir jetzt gleich mal aktiv werden“, wende ich mich Lini zu, die unter Deck mit Helene das Abendritual abhält.

Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, wie das Beiboot anfängt wie ein Betrunkener zu taumeln: Das übergenommene Wasser ist unglaublich schnell mehr geworden und schwappt jetzt vor und zurück. „Scheiße, Lini, schnell, die Banane säuft uns ab.“ Und wie es kommen muss, so kommt es: Ich reagiere vorschnell, hektisch, unüberlegt. Richtig wäre wohl gewesen: Boot sofort loswerfen, solange es noch nicht voll ist. Oder sofort in den Wind schießen, um den Druck rauszunehmen. Am besten beides gleichzeitig. Das weiß ich 5 Minuten später auch wieder. Aber in dieser Situation versuche ich, das Boot in voller Fahrt dichter zu holen. Keine Ahnung wieso. Blödsinn jedenfalls.

Die Banane läuft voll. So schnell wie man kaum gucken kann. Und hängt dann als enormer Schleppanker hinter der vorwärts stürmenden ‚EigenArt‘. „Lini, sofort aufschiessen, Schot auf, irgendwas!!! Seeraum haben wir!“ Nach der ersten Schrecksekunde und wo es erstmal passiert ist, funktionieren wir beide nahezu perfekt: Lini stürmt an Deck, schiesst auf, holt den riesigen Lappen herunter, während ich das voll Wasser treibende Boot heranhole. Leider dreht es sich beim Anbordholen auf den Kopf, so dass die Sicherungsplinte herausfallen, die beiden Mittelbretter sich lösen und davontreiben. Wir fahren zwei Über-Bord-Manöver unter Motor. Innerhalb von 3 Minuten ist der Schreck vorüber und wir wieder auf Kurs. Das Boot selbst ist ja unsinkbar, auch vollgeschlagen treibt es an der Wasseroberfläche. Nur die Splinte sind auf Tiefe gegangen. Auf Position 57°45,474’N 16°47,051’E. Gut, dass nichts weiter im Boot lag.

Die Verunsicherung ob dieses Erlebnisses versegeln wir recht schnell. Manöverkritik. Fehler finden. Abhaken. Helene hat übrigens instinktiv gemerkt, dass Mama und Papa gerade anderswo gebraucht werden und unter Deck seelenruhig gespielt. Das Boot liegt nun zweidrittel in der Kajüte, durch den Niedergang schaut das letzte Drittel heraus. Und wir segeln im Sonnenuntergang. Traumhafter Wind jetzt, nicht mehr so stark. Im Dämmerlicht kann man die Tonnen immer noch gut ausmachen, die Papierkarte ist auch zu erkennen. Wunderbar. Wir sind die letzten Segler weit und breit. Und fühlen uns wohl, denn die ausgewählte Ankerbucht rückt immer näher. Bevor es wirklich schwarz wird, sind wir da. Der Anker fällt schliesslich in Båtsviken auf Position 57°54,721’N 16°47,361’E, wo die Bucht schon mit Ankerliegern gespickt ist. Nach dem Klar-Schiff-Machen gönnen wir uns von Mannis und Lonis Whiskey auf dem Vorschiff und schauen uns die Sterne an. Erzählen. Freuen uns. Und geniessen. Romantischer Abschluss eines bewegten Tages. Ach ja: Götakanal steht wohl fest…