Naturgewalten

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Mensch denkt, doch die Natur lenkt. Das durften wir gleich zu Beginn des Törns wieder einmal erfahren. Am Freitag haben wir gegen 11 Uhr Hohe Düne mit dem Ziel Darßer Ort verlassen. Im Gepäck hatten wir eine Wettervorhersage mit viel Sonne und 2-3 Windstärken aus Südost. Soweit, so gut. Wer das Revier ein wenig kennt, stutzt schon einmal, denn ein leichter Gradient-Wind aus der vorhergesagten Richtung steht der Thermik genau entgegen, die sich im Verlauf des Vormittags aufbaut. Das ist ein Garant für sehr unbeständige Winde bis sich zum frühen Nachmittag meist der Seewind durchsetzt, also eher aus NW.

Dieses Jahr wollen wir ausnutzen, dass Helene tagsüber nicht mehr gestillt wird. So kann Lini ihr Segeldefizit aus dem letzten Jahr ein bisschen abbauen – während ich den Dienst an der Baby-Schot übernehme. (Das ist während der Bastelzeit leider auch ein wenig zu kurz gekommen.) Wir alle 3 geniessen unser erstes Seestück sehr, wenn Lini sich auch etwas mit den beschriebenen Windbedingungen herumärgert.

Eine halbe Meile querab von uns kämpft Vereinskamerad Rü ebenso mit den Bedingungen – gleichfalls mit dem Ziel Darßer Ort. Das erfahren wir nach einem Telefonat und verabreden in Kontakt zu bleiben. Im Verlauf des Nachmittags verschwindet er zunehmend außer Sicht. Vor uns. Das ärgert uns ein wenig – sind wir doch auf Regatten bisher meist ähnlich schnell gesegelt. Unter Seglern heißt es ja: „Wenn zwei Boote in die gleiche Richtung segeln, ist Regatta.“ Wir trösten uns mit dem erhöhten Kampfgewicht unseres ‚Grünwasserseglers’. Später stellt sich heraus: Er hatte die Aral-Genua gesetzt, seine arabische Privatbrise aus dem Tank…

Helene findet unter Deck Gefallen am Versteckspiel im Vorschiff – besonders gerne mit einem verschmierten Pöker! So tollt sie auf der großen Koje herum, geniesst leise schnuffelnd das ruhige Gurgeln der Bugwelle und plantscht mit Wonne in unserer Faltschüssel. Auf Höhe Dierhagen gibt es unsere erste Ostsee-Mahlzeit: Bio-Hühnerbrust mit Ricotta-Spinat-Tortelloni in einer Broccoli-Sahne-Sauce – phantastisch! Auf See kommt der Appetit ja sowieso von allein, aber derart kulinarisch verwöhnt stillt er sich doch umso leckerer.

Dieses reichhaltige Abendmahl stellt sich im Nachhinein auch als sehr glückliches Timing heraus. Zuerst erstirbt die Thermik und lässt uns in der Windstille nördlich von Ahrenshoop zurück. Da es noch etliche Meilen bis zum Darßer Ort sind, reißen wir entgegen unserer sonstigen Gewohnheiten den Motor an. Doch der vorherige Blick durchs Fernglas hatte nicht getäuscht: Ein, zwei Meilen weiter treffen wir auf ein stabiles Windfeld mit Wind von Südost – der Gradientwind hat wieder Oberwasser.

Da klingelt das Telefon, Rü ist dran: „Bin da jetzt 3 Mal draufgebrummt und geradeso wieder runtergekommen. Hatte schon Angst das ich auch noch mit dem Ruder aufsetze. Dem Boot vor mir ging`s nicht besser. Der Wind steht auch drauf. Ich fahr da jetzt nicht noch mal rein. Werd nach Barhöft aufkreuzen. Viel Glück.“ Der Nothafen Darßer Ort ist seit vielen Jahren ein Politikum: Er liegt einerseits in der Kernzone des Nationalparks und ist andererseits auf weiter Strecke der einzige Hafen. Und vor allem: Extrem stark von Versandung betroffen. Letztes Jahr noch ausgebaggert scheint er nach den starken Ostwinden der letzten Wochen endgültig wieder dicht zu sein. Dementsprechend fällt meine Antwort an Rü aus: „Für uns mit Aussenborder fällt das erst Recht aus! Der zieht rückwärts keinen Hering vom Teller. Da kommen wir nie allein wieder runter. Hast Du auch Ostsüdost? Ja? Dann werden wir wohl den Dornbusch (Hiddensee) anliegen können. Danke für die Warnung!!!“ Gut, also geht es gleich die Nacht durch. „Wenigstens ist ja gutes Wetter“, denke ich mir.

Solche Situationen sind genau der Grund, warum viele die Strecke zwischen Warnemünde und Rügen fürchten bzw. meiden. Man ist gezwungen über 50 Seemeilen am Stück abzuspulen und der Darßer Ort ist zudem als Wetterscheide bekannt. Das erfahren wir anschliessend einmal mehr am eigenen Leibe: Sind wir noch vor einer Stunde mit Riesen-Genua und vollem Groß dahingedriftet, zwingt der auffrischende Ostsüdost nun zum Vorsegelwechsel: Die brandneue Arbeitsfock von Jan-Segel kommt zum Einsatz. Diesmal frühzeitig, bald soll ‚Knöpfchen‘ ja schliesslich ihren Nacht-Schlaf antreten und solch ein Wechsel ist wirklich mit viel Lärm verbunden. Wenn alles so bleibt können wir nach dem Runden der Tonne ‚Darßer Ort West‘ direkt auf Kurs 70° Richtung Hiddensee gehen – denn Kreuzen wäre definitiv viel zu laut zum Schlafen für Helene.

Soweit passt der Kurs dann auch tatsächlich, nur dass der Wind langsam aber sicher in Richtung 5 in Böen 6 Bft. tendiert. Mit der für die flache Ostsee und die Küstenform an dieser Stelle typische kurze Hacksee. An sich kein Problem, wenn nicht gerade ein Kleinstkind an Bord schlafen soll. Trotz aufmerksamen Steuern wird es in der zunehmenden Dunkelheit unmöglich, die ‚EigenArt‘ ruhig durch die Welle zu manövrieren. Vielmehr schiesst das Boot über die zwar relativ niedrigen aber extrem steilen Wellen hinaus ins Leere und fällt dann unter ungeheurem Rumsen mit dem flachen Unterwasserschiff in das Wellental. Als auch noch das erste Reff im Groß fällig wird, ist aus dem chilligen Nachtsegeln binnen eineinhalb Stunden ein ruppiger, nasser und dunkler Ritt geworden. Glücklicherweise helfen die Bachblüten ‚Rescue-Tropfen’ Helene in den Schlaf zu finden und dort festzumachen!

Gegen 1 Uhr beginnt der Wind schlagartig zu schwächeln, rafft sich noch einmal für eine halbe Stunde auf und scheidet dann leise dahin. Toll. Jetzt auch noch motoren. Als dann schliesslich der Nieselregen einsetzt, muss eine Tüte Studentenfutter als Motivationsschub dran glauben, während das Tageslicht zurückkehrt. Gegen 6 Uhr morgens machen wir endlich in Kloster fest. Bei allem Unbill: Wir sind doch irgendwie immer wieder froh über solche Erlebnisse. Stellen sie doch die eigentlich natürliche Ordnung wieder auf die Beine. Wenn die Natur sagt: „Der Hafen versandet und das Wetter macht Kapriolen“ – dann ist das so.