Mit Südwind nach Norden

Dieser Blogartikel könnte auch überschrieben sein mit: “Warum haben wir bloß den Spinnaker zu Hause gelassen?” Lini sagte noch vor zwei Tagen: “Die Spi-Tage kann man doch sowieso an einer Hand abzählen.” Gestern präzisierte sie: “Es bleibt uns nur noch ein Tag!” Die Antwort auf die eingehend gestellte Frage schmeckt auch immer schaler: “Wir haben keinen Platz um den Spibaum bei Starkwind sicher zu verstauen!” Letztes Jahr ist mir nämlich bei einem stürmischen Ritt vom Darßer Ort nach Rostock mehrfach der Spibaum klöternd um die Ohren geflogen, der parallel am Mast hochgezogen war. Derweil hockte Lini über Stunden unten mit der neugeborenen Helene und hat gestillt, gewickelt und geschmust – bei 30° Lage, schmetternden Aufschlägen der Bugsektion und allgemeinem Schwerwetterbegleiterscheinungen. Aber ich schweife nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch ab.

Denn eigentlich möchte ich ja vom Traum des Schönwettersegelns vor dem Wind berichten. Der hat uns nämlich die letzten Tage in seinen Bann geschlagen. Kurz nach ‘bergamotte’ verlassen wir Christiansø am Mittwoch bei leichten süd-westlichen Winden in Richtung Utklippan. Es folgt ein im positiven Sinne weitgehend ereignisloser Segeltag: Zunächst verschwinden die Erbseninseln langsam im Schönwetterdunst. Dann lange, sehr lange Zeit nur Blau um uns herum, durchbrochen von den vereinzelten Segeln und Masten. Aufgrund der flauen Winde segeln nämlich längst nicht alle. (Quatsch, tun selbst bei besten Bedingungen nicht alle.) Für die 42 sm brauchen wir ca. 12 Stunden. Die Großschiffahrt behelligt uns derweil überhaupt nicht, sondern bleibt in angenehmer Distanz mit klarem Kurs.

‘bergamotte’ ist die gesamte Strecke in Sichtweite, zunächst mit Geschwindigkeitsvorteilen bei uns, nach leichtem Zunehmen und Raumen des Windes bei ihnen. Zirka auf der Hälfte der Strecke zischt ‘Koi’ an uns beiden vorbei und verschwindet gen Horizont. Nach Ankunft stellt sich heraus, dass sie ziemlich genau halb so lange unterwegs waren. Da bekommt man schon ein wenig neidische Gefühle ob des erhöhten Aktionsradius. Ein Blick unter Deck relativiert das aber – ein leeres Nichts, Zelten ist komfortabler! Da hält der ‘Auch-Haben-Will’-Faktor angesichts der Windfahnen-Selbststeuerung von ‘bergamotte’ deutlich länger an. Unser Gummistropp macht seine Sache zwar ganz toll, aber dennoch ist man mit seiner Aufmerksamkeit vollständig an das Steuern gebunden. Da einer von uns ständig an der ‘Baby-Schot’ Dienst hat, werden die 12 Stunden doch schon mächtig lang. Und dieser Vorteil der Selbststeuerung gilt ja nicht nur für Super-Sommer-Sonnenschein-Wetter…

Nach Ewigkeiten taucht schliesslich der Leuchtturm von Utklippan auf. Dieser Nothafen ist letztlich einfach nur ein von Beton eingefasstes Becken zwischen zwei kleinen Schären als äußerst südlicher Vorposten am östlichen Ende der Hanö-Bucht. Insofern passend als Einstieg in einen schwedischen Sommer – der hoffentlich voller Schären-Erlebnisse steckt. Dementsprechend seltsam ist auch die Atmosphäre nach dem Festmachen: Über 40 Boote entlassen ihre Crews zum Sundowner auf die wenigen steinübersäten Quadratmeter Land. Bildlich gesprochen steht alle paar Meter ein Mensch. Bleibt nicht viel zu tun, als ein wenig hier und da zu quatschen und dann in der Koje zu verschwinden.

Der Donnerstagmorgen sieht uns mal wieder wegen einer Päckchen-Auflösung zeitig verholen. Wir beschliessen spontan dann auch gleich loszumachen. Abends hatten wir uns noch mit der Crew von ‘bergamotte’ auf ein mögliches Ziel geeinigt. Wobei wir uns wegen Helene offen gehalten hatten, einen sehr kurzen Abschnitt einzulegen. So tuckern wir aus der östlichen Hafeneinfahrt in die absolute Flaute, wo wir für ca. anderthalb Stunden parken. ‘Schnelles Stehen’ nenne ich diesen Zustand des gerichteten Treibens mit Geschwindigkeiten unter einem Knoten. Dann kommt mit einem Schlag eine Seebrise aus südlichen Richtungen auf, die uns an der Südostküste Schwedens entlang nach Norden schiebt. Bilderbuchsegeln.

So ziehen an Backbord Utlängan und Sandhamn vorbei. Und uns noch überhaupt nichts an Land. Also doch kein Kurztrip. Die Küste ist bewaldet und liegt im Sonnenschein freundlich da. An Bord geniessen wir das Steuern im Cockpit und das Spielen und Herumtollen mit Helene unter Deck. Im Verlauf des Nachmittags brist es immer mehr auf bis man selbst vor dem Wind merkt, dass die Genau eigentlich schon zu viel ist. Das deutet auf eine ausgereifte 5 hin. Da taucht auch schon Kristianopel auf und es ist Zeit, die von Untiefen gesprenkelte Ansteuerung aufzunehmen.

Dazu wird ‘Knöpfchen’ hinter dem Netz im Vorschiff in Sicherheit gebracht. Glücklicherweise ist das sowieso ihr allerliebster Ort an Bord. Während der Vorbereitungen und während des Einlaufens kann ich immer wieder einen Blick unter Deck werfen: Sie hat sich in den vordersten Bereich vor dem Schott zurückgezogen, wo es ziemlich dunkel ist – ich kann mit Sonnenbrille kaum erkennen, was sie dort macht. “Solange es ruhig ist, geht alles klar”, denke ich mir. Auf der äußeren Mole steht bereits ein buckliges Männchen, gestikuliert und ruft englische Anweisungen: “How deep?” “One fifty!” Wir sollen außen herum und hinter einem hervorstehenden Steg längsseits an einen größeren Segler. So richtig wohl ist mir nicht, hoffentlich hat er nicht ‘One fifteen’ verstanden – denn laut meinem Hafenplan ist es dort flach. Das Männchen folgt uns, wiederholt und präzisiert seine Anweisungen. Mehrfach. Auch nach bestätigenden Rufen von unserer Seite. Selbst noch als wir schon fast festgemacht haben. Auf die gleiche Weise wird mit ‘bergamotte’ verfahren, die eine Dreiviertelstunde nach uns einläuft. Im Verlauf des weiteren Nachmittags wird klar: So macht er das mit jedem Boot. Und der Erfolg gibt ihm Recht – jeder findet einen angemessenen Platz ohne langes Suchen. Er wiederum bekommt alle in seinem Hafen unter, ohne dass jemand wieder rausfährt. Selbst als gegen Abend eine brandneue Hanse 575 reinkommt, findet sie ihren Platz – und das Ding ist mal locker 17 Meter lang. Eine echte Attraktion in solch einem kleinen Hafen mit angeschlossenem Campingplatz.

Ach ja, Helene hat während des Anlegens einen Gutteil der Vorschiffstaschen ausgeräumt – kein Wunder, dass sie leise und glücklich war!!! Und weil sie so lieb war, wir so toll gesegelt sind und überhaupt gerade die Sonne scheint, gönnen wir uns ein paar frisch gebackene Waffeln von einem Stand am Hafen. Ich glaube, irgendeiner von uns muss wohl auch Geburtstag haben 😉 Der Waffelbäcker entpuppt sich als gebürtiger Berliner, den seine “Ex-Verlobte” (mittlerweile Ehefrau schliessen wir) vor über 40 Jahren nach Schweden gezogen hat. Sein neues Zuhause am Ende der Provinz bietet Bullerbü ähnliches Flair – sind sich jedenfalls Lini und Nele von der ‘bergamotte’ einig. Und einen schönen Blick auf ein ausgedehntes Vogelschutzgebiet nördlich des Hafens – dank unseres Hafenlotsen direkt hinter unserer Sonnenterasse mit Segeloption. Hier findet im Verlauf des Abends auch der 30ige Ehrentag von Lini statt – mit Shanties über zwei Kleinkreuzer hinweg und einem Blumenkranz für das ‘Geburtstagskind’.

Erneut haben wir uns mit den ‘Berg A Motten’ ohne Verpflichtung auf ein mögliches Ziel verständigt, diesmal legen sie jedoch deutlich vor uns ab. Denn wir wollen nach zwei recht kompromisslosen Segeltagen einfach nicht wieder den Fokus alleine aufs Segeln richten. So wird noch die Wasserpumpe repariert, die Backskiste ausgeräumt, Sprit in den Tank nachgefüllt und Wasser gebunkert. Nachdem Helene vollständig gebadet, gestriegelt und endlich zur Ruhe gekommen ist, machen wir auch los. Mittlerweile ist ähnlich wie am Vortag die Seebrise sehr kräftig geworden und schiebt uns absolut angenehm nach Norden – schon wieder Spi-Wetter ohne Spi. So dringen wir immer tiefer in den Kalmarsund ein, der sich immer mehr verengt. Wegen der vorgelagerten Untiefen müssen wir uns relativ weit von Land halten, leider liegt der zu steuernde Kurs genau zwischen einem noch vertretbaren Schmetterling und dem tiefsten Raumschots-Kurs mit gefüllter Genua. Also wechseln wir mehrere Male den Kurs und ‘kreuzen’ downwind.

Erneut ist das Segeln so schön, dass wir nicht vorzeitig abbrechen, sondern das mit ‘bergamotte’ vereinbarte Ziel Kalmar ansteuern. Die ganze Szenerie erinnert mich in zweierlei Hinsicht an unseren ‘großen Dänemark-Törn’ vor einigen Jahren: Öland und der Kalmarsund wirken wie eine vergrößerte östliche Version von Langeland. Und das Schloss in Kalmar ähnelt stark der Kronborg in Helsingør. Wir segeln bis in die Einfahrt des großen Hafens – diesmal ist Helene leider nicht ganz so glücklich über das Im-Vorschiff-Verstaut-Werden. Denn sie ist mit Schlafen ein bisschen überfällig und dann füllt sich im falschen Augenblick auch noch die Windel. Aber die Laune bessert sich schnell, nachdem wir im hintersten Winkel des Hafens festgemacht haben – gegenüber von ‘bergamotte’. Während Lini wunderbares süß-saure Hähnchen-Pfanne mit Kartoffeln zaubert, gehen Helene und ich ein wenig tanzen: Direkt an unserem Liegeplatz hält ein lateinamerikanisches Tanzstudio seine Stunden am Hafen unter freiem Himmel ab. Unsere kleine Tanzmaus ist einfach nicht zu bremsen. Dann fordern die Schönwetter-Segeltage allerdings ihren Tribut und die Crew der ‘EigenArt’ schafft es nur noch, dringende Lebenszeichen über das Internet abzugeben, bevor wir in die Koje fallen. Der Samstag findet definitiv nicht auf dem Wasser statt, sind wir uns einig. Ein Spielplatz muss her!!!