Auf dem Absprung

Hafenfäule beginnt bei uns spätestens am dritten Tag einzusetzen – sogar in unserem zweiten Zuhause Kloster auf Hiddensee war das so. Göteborg kann da trotz angenehmen Hafentagen nichts dran ändern. Und nach so langer Zeit in der Einöde wieder in einer Großstadt zu sein, ist schon ein merkwürdiges Gefühl – es lässt an das Törnende denken.  Jedenfalls haben wir am Donnerstag mit Helene im Tragetuch einen ausgedehnten Stadtbummel gemacht – ohne Kamera. Wir sind ja keine Städtetouristen! Der Seemann entfernt sich instinktiv auch in der Stadt nicht zu weit vom Wasser! Also sind wir entlang der Kanäle bzw. Wallgräben gewandert. Besonders gefallen hat uns das Stadtviertel Haga, das kleine Boutiquen, Cafés und ausgefallene Läden beherbergt. In einem indischen Restaurant haben wir gut und günstig zu Nachmittag gegessen – unbestreitbarer Vorteil einer Großstadt. Helene hat bei dieser Gelegenheit ihre Leidenschaft für Kichererbsen entdeckt. Von einer hochgelegenen ehemaligen Festung aus haben wir dann den Blick über die Stadt schweifen lassen. Auffällig ist das städtische Pendant zur Schärenlandschaft: Hier und da ragen einige Häuser oder gar ein Strassenzug steil aus der Umgebung heraus, da sie auf einem großen Granitbrocken errichtet wurden. Es gibt viele schön anzusehende ältere Häuser, wobei das Stadtbild insgesamt recht heterogen wirkt. Auf dem Spielplatz am Fuss des Festungsbergs hat Helene die Rutsche blank gewienert wie eine Große: Selbständig die Treppe wieder herausklettern!

Zurück am Hafen stellen wir fest, dass ‚Atacama‘ neben uns festgemacht hat! Schöne Überraschung. Und vor Kopf am letzten Steg liegt auch noch ‚Gas Pirate‘ – jetzt sind wir ja fast alle wieder beisammen! Auch ‚Jojo‘ und ‚Penelope III‘ trudeln noch ein, ‚Mon Ami‘ waren bis nachmittags ebenfalls da! Dass unsere ‚Reisegruppe‘ aus dem Götakanal auch über Vänernsee und Trollhättekanal hinaus noch zusammenfindet, hätte ich nicht gedacht. Offensichtlich sind die Reisegeschwindigkeiten und -routen sehr ähnlich. Unter anderem deshalb werden die beiden folgenden Hafentage sehr kurzweilig. Irgendjemanden trifft man immer, mit dem man einen Schnack hält. Darüber hinaus finden auf der Fläche vor dem Hafen fast jeden Tag Veranstaltungen statt. Zunächst ein Kinderfussballturnier, das die ballvernarrte Helene natürlich großartig findet: “Baj…!!! Piichhhuuuu!!!” (Letzteres soll ein Schussgeräusch imitieren). Dann am Samstag ein internationales Kulturfest mit wirklich guter Livemusik. Von der Familiencrew der ‚Gas Pirate’ verabschieden wir uns mit einem richtigen Besuch an Bord. Helene taut soweit auf, dass sie britische Nasen stupst: „Nah…“ Die Tage vergehen wie im Flug, derweil wir sowohl ‚Knöpfchen‘ als auch ‚EigenArt‘ hegen und pflegen.

Eines der immer wiederkehrenden Gesprächsthemen ist unter Seglern noch stärker ausgeprägt: Das Wetter. Natürlich. Davon sind wir ja schliesslich sehr stark abhängig. Vor allem aus den verschiedenen Wetterdiensten kann man gut eine Wissenschaft machen. Fast alle in Göteborg warten auf das richtige Wetter für den Absprung. Dabei unterscheidet sich das als richtig empfundene Wetter je nach Seglertyp und Fahrtrichtung sehr deutlich. Und so fiebern und bangen alle fleißig mit bei den sich laufend ändernden Prognosen. Die schick animierten und stündlich gerasterten Graphiken sind aber auch sehr verlockend. Wir lassen unsere Törnplanung nicht mehr sosehr davon bestimmen: Die aktuelle Großwetterlage zu kennen, ist für uns das Wichtigste. Die liefert uns die Analysekarte mit Isobaren, Frontverläufen, Tief- und Hochdruckgebieten.

Und das Barometer. Endlich wieder. Denn während der Kanalfahrt fiel diese Möglichkeit aus. Kaum waren wir die ersten Schleusenmeter emporgeklettert, fiel mein Blick aufs Barometer und vor allem auf die Verlaufsanzeige des Luftdrucks. Die einen Satz nach unten macht. „Wow, krass. Da scheint richtig was im Anmarsch zu sein!“ entfährt es mir. Nun bin ich ganz aufmerksam und suche nach Anzeichen für eine Weiterverschlechterung – doch das Gegenteil ist der Fall! Nach einigen Stunden fällt es mir wie Schuppen von den Augen: „Mann, wir sind doch nicht mehr auf Meereshöhe! Da stimmt doch der angezeigte Luftdruck nicht mehr!“ Während der Kanalpassage passiert es mir dann öfter, dass andere Segler den extrem niedrigen Luftdruck und das anhaltend gute Wetter nicht in Einklang bringen können. Ich bin also nicht der Einzige, der völlig betriebsblind ein seegehendes Boot selbstverständlich auf Meereshöhe verortet.

Am Sonntag Mittag ist dann endlich alles erledigt und ausserdem legt ‚Atacama‘ auch gleich ab. Unser nächstes Ziel – die Schäreninsel Donsö kurz vor Göteborg – hatten wir sowieso bereits abgestimmt. Dort wollen wir endgültig auf den Absprung in Richtung Süden warten. Für den Nachmittag sind abnehmende Winde vorhergesagt. Also los. Noch in der Hafeneinfahrt ziehe ich mein Ölzeug an – draussen auf dem Fluss steht schon ein wenig Welle und noch ist von der Windabnahme nichts zu spüren. Es geht vorbei an der Silhouette Göteborgs, südlich überwiegend Häuser, auf der Nordseite vor allem maritime Industrie. Lini vollzieht soweit möglich unseren Spaziergang vom Donnerstag mit der Kamera aus der Ferne nach. Als wir unter der großen Brücke durch sind, setzt der ungebremste Wellengang ein und macht unserem treuen Weggefährten am Heckspiegel das Leben schwer. Er muss im wahrsten Sinne des Wortes schlucken. Und verschluckt sich – beinahe bis zum Atemstillstand. Für uns das Zeichen, schleunigst Segel zu setzen und ihn dankbar zu entlasten.

Bei Hacksee in der engen Ansteuerung zu einem großen Hafen aufzukreuzen ist auf jeden Fall ein Erlebnis. Auf dem ersten Streckbug müssen wir einen einfahrenden Holzfrachter sehr nahe passieren. Sein Wellensystem lässt die ‚EigenArt‘ unfreiwillig zum Skispringer werden. „Aua, der Bauchplatscher tat bestimmt weh, armes Mädchen!“ Die überkommende Gischt ist auf einmal wieder salzig! Beim nächsten Streckbug kommt von hinten ein großer Gastanker auf und zwingt uns dazu Höhe zu verschenken. Der darauf folgende Holebug verlangt ebenfalls Nerven, weil wir einer Dänemarkfähre direkt vor dem Bug durchlaufen müssen – erst hinter einer Großtonne sind wir in Sicherheit. Eigentlich könnten wir nun mit genug Höhe als Reserve zwischen den Schären verschwinden – läge nicht ein litauischer Frachter auf Reede direkt im Weg. Den passieren wir 15 Meter hinter seinem Heck, um keine Höhe zu verlieren. Ich bin immer wieder froh, durch den Rostocker Überseehafen mit großen Pötten umgehen gelernt zu haben. Sonst wäre mir heute die Pumpe durchgegangen. Aber noch viel froher bin ich über jedes fröhliche: „Natürlich sind wir klar zur Wende! Hau rein!“ von Lini und Helene unter Deck. Beileibe keine Selbstverständlichkeit bei dem Gestampfe.

Als wir zwischen die Inseln kommen, kehrt endlich Ruhe ein, zumindest wellentechnisch. Für die Schönheit der Schärenlandschaft habe ich wegen des drehigen und böigen Windes leider kaum ein Auge. Einziger Eindruck: Nicht so karg, wie ich vermutet hatte, aber trotzdem felsendominierter als im Osten Schwedens. Dann zieht ein Platzregen gerade so vor uns durch. Wir können alles in allem gerade so den Südkurs zwischen den Schären anliegen – aber Höhe ist ein kostbares Gut. Wie schnell es gehen kann, führt mir eine recht neue Dehler in direkter Nähe vor Augen: Eben noch die reinste Segelfreude mit ordentlich Lage und dann ganz plötzlich nur noch Chaos, schlagende Segel und bestimmt sehr unerfreuliche Geräusche. Hoch und trocken. Auf schwedischem Granit. Autsch. Als sie wieder runter sind, deuten schlingernder Kurs und unkonzentrierter Segeltrimm die Gemütsverfassung der Crew an.

Derartig gemahnt ist es bald Zeit, rechts abzubiegen und nach einem kurzen Stück die Segel zu bergen. Im Hafen werden wir von ‚Atacama‘ hilfreich empfangen – sie hatten sich für die Dieselvariante auf dem direkteren Weg entschieden. Bestimmt auch keine schlechte, weil ruhigere Wahl. Wir schaffen es gerade so, alle notwendigen Landangelegenheiten zu erledigen und zu Abend zu essen, bevor ein nicht endendes Warmfront-Gewitter mit Hagelschauern, Sturmböen und taghellen Blitzen heraufzieht. Lini tauft die Insel – von der wir noch rein gar nichts gesehen haben – kurzerhand von ‚Donsö‘ in ‚Donnersö’ um – dabei ist doch heute Sonntag!